Evaluation bayesianischer kognitiver Modelle in der Vorhersage menschlichen Verhaltens

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit bayesianischer kognitiver Modellierung und ihrem Potential zur Erklärung und Vorhersage menschlichen Verhaltens. Kognitive Modellierung unterscheidet sich dabei von anderen in der psychologischen Forschung angewandten Modellierungsmethoden durch den Versuch, d...

Full description

Bibliographic Details
Main Author: Schürmann, Tim
Format: Others
Language:de
Published: 2019
Online Access:https://tuprints.ulb.tu-darmstadt.de/8601/1/Sch%C3%BCrmann%20-%20Dissertation.pdf
Schürmann, Tim <http://tuprints.ulb.tu-darmstadt.de/view/person/Sch=FCrmann=3ATim=3A=3A.html> (2019): Evaluation bayesianischer kognitiver Modelle in der Vorhersage menschlichen Verhaltens.Darmstadt, Technische Universität, [Ph.D. Thesis]
Description
Summary:Die vorliegende Arbeit befasst sich mit bayesianischer kognitiver Modellierung und ihrem Potential zur Erklärung und Vorhersage menschlichen Verhaltens. Kognitive Modellierung unterscheidet sich dabei von anderen in der psychologischen Forschung angewandten Modellierungsmethoden durch den Versuch, den Prozess der Informationsverarbeitung innerhalb eines Individuums formalisieren. Als Konsequenz sind psychologische Konstrukte in kognitiven Modellen oft präziser und weniger flexibel als in mathematischen oder verbal-theoretischen Modellen implementiert. Bayesianische kognitive Modelle betrachten beobachtbares menschliches Verhalten als Folge eines wahrscheinlichkeitsbasierten Prozesses. Sie folgen weiterhin der Annahme, dass die menschliche Wahrnehmung unsicherheitsbehaftet ist. Menschen, die etwas über den Zustand ihrer Umwelt lernen, schreiben deshalb ihren Annahmen über den Zustand ihrer Umwelt ein Ausmaß an Vertrauen zu, das als Wahrscheinlichkeit interpretiert werden kann. Des Weiteren können sie ihr Vertrauen in Annahmen über die Umwelt unter Berücksichtigung neuer Informationen verändern. Sie greifen dafür den Satz von Bayes auf, eine mathematische Regel zur Berechnung bedingter Wahrscheinlichkeiten. Hat ein Individuum beispielsweise eine Annahme über die eigene Umwelt, glaubt es eingangs zu einem bestimmten Ausmaß daran, dass diese Annahme zutrifft. Beobachtet es daraufhin Geschehnisse aus seiner Umwelt, dann beurteilt es die Wahrscheinlichkeit dieser Geschehnisse, das Zutreffen seiner Annahme vorausgesetzt. Der Satz von Bayes beschreibt, wie das Individuum sein Ausmaß an Vertrauen in seine Annahme in Relation dazu verändern sollte, wie wahrscheinlich die beobachteten Geschehnisse gegeben seiner Annahme sind. Bisherige Untersuchungen menschlichen Wahrnehmungs- und Entscheidungsverhaltens scheinen zwar in Konflikt mit der mathematisch rationalen Anwendung des Satzes von Bayes zu stehen. Durch die Berücksichtigung ressourcenbezogener Einschränkungen ist es jedoch gelungen, augenscheinlich irrationale Entscheidungsphänomene beim Menschen zu rationalisieren. So beschreibt die Sampling-Hypothese das Konzept, den Menschen nicht als vollends bayesianischen Agenten zu beschreiben, sondern ihn in Abhängigkeit verfügbarer Ressourcen nur Teilmengen seiner vorhandenen Informationen berücksichtigen zu lassen. Ihre Umsetzung in kognitiven Modellen ermöglicht dadurch die Erklärung ehemals als irrational deklarierten Verhaltens. Auf Basis dieser theoretischen Weiterentwicklung bayesianischer kognitiver Modellierung untersuche ich ihre Vorhersagequalität menschlichen Verhaltens in drei Domänen. Zunächst greife ich ein existierendes Modell auf, das die Entstehung von Körperillusionen als rationale Integration mehrerer sensorischer Kanäle beschreibt. Bei Körperillusionen wird menschlichen Studienteilnehmenden durch eine Manipulation der sensorischen Kanäle der Eindruck vermittelt, dass sich ein eigenes Gliedmaß nicht dort befindet, wo es tatsächlich ist. Zwei bekannte Varianten solcher Illusionen sind als Rubber-Hand- beziehungsweise Rubber-Foot-Illusion bekannt. Das Modell wurde ehemals auf die Rubber-Hand-Illusion angewandt und war im Stande, qualitative Prognosen über das Zustandekommen der Illusion zu treffen. Es überschätzte jedoch ein quantitatives Kriterium einer erfolgreichen Körperillusion, den propriozeptiven Drift. In dieser Arbeit übertrage ich das komputationale Problem des Modells auf die Rubber-Foot-Illusion und zeige durch Neuauswertung eines bestehenden empirischen Datensatzes, dass die Überschätzung propriozeptiven Drifts von einem Teil des verwendeten Modells, des Priors, ausgeht. Bisherige Forschung hatte das Vorwissen menschlicher Studienteilnehmender als uniforme Verteilung modelliert, die statt der echten Position des menschlichen Gliedmaßes alle möglichen Positionen im Umfeld der Studienteilnehmenden als gleich wahrscheinlich darstellte. Durch die Verwendung von zwei Varianten eines informierten Priors, der das echte Gliedmaß zu Beginn des Experiments dort verortet, wo es sich tatsächlich befindet, kann die Prognose propriozeptiven Drifts deutlich verbessert werden. Das zweite Anwendungsfeld bayesianischer kognitiver Modellierung in dieser Arbeit betrifft menschliches Entscheidungsverhalten zwischen Optionen unter Berücksichtigung mehrerer Attribute je Option. Ich stelle zwei Studien vor, die sich inhaltlich mit dem Entscheidungsverhalten von Nutzenden von Online-Diensten befassen. Durch die mediale Berichterstattung über Datenlecks bei Konzernen, Wahlmanipulationsversuche und institutionelle Datensammlung mag der Eindruck entstehen, dass der Erhalt digitaler Privatsphäre im Fokus vieler Nutzenden stehen sollte. Dennoch berichtet die Forschungsliteratur vom sogenannten Privatsphären-Paradox: dem Umstand, dass Nutzende auf Nachfrage zwar Sorgen um den Verlust ihrer Privatsphäre äußern, aber dennoch dazu tendieren, Online-Dienste zu nutzen, die diesen Privatsphärenverlust ermöglichen. Mit Blick auf dieses Verhalten wird in der Literatur die Rationalität von Nutzenden angezweifelt. Stattdessen wird angenommen, dass Nutzende aufgrund begrenzter kognitiver Ressourcen eher auf Heuristiken statt auf Nützlichkeitsmaximierung im Sinne bayesianischer Entscheidungstheorie setzen. Es bedarf jedoch keiner Anwendung von Heuristiken, um das gezeigte Nutzungsverhalten zu erklären. Deshalb formalisiere ich ein rationales Prozessmodell, das Entscheidungen über die Nutzung hypothetischer Online-Dienste als Ergebnis eines Sampling-Prozesses von Präferenzen vorhersagt. Seine Leistung wird dabei mit zwei heuristischen und einer bayesianischen Variante ohne Sampling-Prozess verglichen. Die Modelle sagen die Anzahl an Entscheidungen für die Nutzung hypothetischer Online-Dienste auf Basis angegebener Präferenzen von Teilnehmenden in zwei Online-Studien vorher. Für die Mehrheit aller Stimuli stelle ich dabei fest, dass das rationale Prozessmodell die beste Vorhersagequalität bietet. Daraus leite ich Handlungsempfehlungen für die Gestaltung von Interventionen ab, die Nutzenden privatsphärenschützende Entscheidungsfindung ermöglichen sollen. Zuletzt behandelt das dritte Anwendungsfeld dieser Arbeit die Modellierung menschlichen Entscheidungsverhaltens zwischen Optionen, die jeweils nur durch ein Attribut charakterisiert sind. Inhalt der Modellierung ist die Wahrnehmung nonverbalen Flirtverhaltens, die aufgrund seiner Prävalenz in vielen sozialen Kontexten unsicherheitsbehaftet ist. In einer Online-Studie wurden Teilnehmende gebeten, sich kurze Videoausschnitte anzusehen, in denen eine Schauspielerin verschiedene nonverbale Verhaltensweisen in zwei sozialen Kontexten darstellte. Für jedes gezeigte Verhalten sollten sie sich entscheiden, ob es eine Flirtintention ausdrücken sollte. Ob der Sampling-Prozess des rationalen Prozessmodells dieses Entscheidungsverhalten hinreichend besser vorhersagt als Alternativmodelle, wird in diesem Kapitel untersucht. Der Modellvergleich zwischen dem rationalen Prozessmodell, einem Angleichungsmodell und einem bayesianischen Modell ohne Sampling-Prozess zeigt, dass das Angleichungsmodell bessere Vorhersagen produziert, als beide anderen Modelle. Diesen Unterschied führe ich auf den jeweiligen Mechanismus zur Wissensrepräsentation beider Modelle zurück und diskutiere Erweiterungen der Modellstruktur. Ich beende die Arbeit mit einer Einordnung des Verhaltens der verschiedenen betrachteten Modelle hinsichtlich psychologischer Plausibilität und lege dar, welche Eigenschaften das vorgestellte rationale Prozessmodell mit anderen empirisch erfolgreichen Modellierungsarten gemein hat. Diese einheitlichen Eigenschaften legen den Verdacht nahe, dass unterschiedliche Arten kognitiver Modellierung letzten Endes ähnliche Berechnungen in ihren jeweiligen Modellstrukturen abbilden und aufgrund dieser, nicht ihrer jeweiligen zugrundeliegenden Theorie, erfolgreich Vorhersagen über menschliches Verhalten treffen können. Als Konsequenz sollte zukünftige Forschung die metakognitiven Systeme, die zur Entstehung dieser einheitlichen Eigenschaften psychologischer Prozesse führen, mitberücksichtigen.