Die Rolle des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten während des Scheunenviertelpogroms 1923

Am Beginn dieser Magisterarbeit steht das Scheunenviertelpogrom, das am 05. und 06. November 1923 im Berliner Scheunenviertel stattfand. Ausgehend von einer Charakterisierung der verschiedenen Gruppen, die während des Scheunenviertelpogroms am 05. und 06. November 1923 entweder als Täter oder Opfer...

Full description

Bibliographic Details
Main Author: Mittelstädt, Gerlind
Format: Dissertation
Language:German
Published: Universität Potsdam 2013
Subjects:
Online Access:http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:517-opus-67345
http://opus.kobv.de/ubp/volltexte/2013/6734/
Description
Summary:Am Beginn dieser Magisterarbeit steht das Scheunenviertelpogrom, das am 05. und 06. November 1923 im Berliner Scheunenviertel stattfand. Ausgehend von einer Charakterisierung der verschiedenen Gruppen, die während des Scheunenviertelpogroms am 05. und 06. November 1923 entweder als Täter oder Opfer, als Ordnungshüter oder Beschützer der Opfer in die Ereignisse involviert waren, soll diese Arbeit dazu dienen, die Rolle des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten dabei näher zu beleuchten. Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten war 1919 zum Zweck der Abwehr des Antisemitismus gegründet worden. Eine Intention für die Gründung war der „antisemitische Stachel im Fleisch“ der jüdischen Veteranen, die bereits während des Ersten Weltkrieges als „Drückeberger“ verunglimpft worden waren. Während der gesamten Zeit seines Bestehens war der Reichsbund bemüht, Beweise dafür zu erbringen, dass diese Anschuldigungen ungerechtfertigt waren. In seinem Selbstverständnis sah sich der RjF als Abwehrverein, der mit verbalen und publizistischen Mitteln versuchte, gegen eine Bedrohung vorzugehen. Da diese Mittel in einigen Fällen, wie dem Scheunenviertelpogrom nicht ausreichten, wurde auch ein gewaltsames Vorgehen in Betracht gezogen. Ehemalige, oft hochdekorierte Soldaten, versuchten den bedrohten Glaubensgenossen zu helfen und einzugreifen, als diese von einem antisemitischen Mob angegriffen wurden. Dieses Eingreifen brachte dem Reichsbund einen Zugewinn an Selbstbewusstsein in seinem Abwehrkampf. Der Scheunenviertelpogrom war für den Bund eine Zäsur und leitete eine zweite Phase der Entwicklung ein. Als kleiner Verein mit einem geringen Bekanntheitsgrad hatte er nur gediente Frontsoldaten in seinen Reihen. Nach dem Pogrom stiegen die Mitgliederzahlen sprunghaft an. Vor allem junge Menschen wollten im Abwehrkampf gegen den Antisemitismus mitkämpfen. Diese Tatsache bewog die Leitung des Reichsbundes zur Erweiterung des Aufgabengebietes. Die sportliche Ertüchtigung wurde als erster Schritt in eine neue Richtung gewertet, die Jugend als Hoffnungsträger für die Fortsetzung des eigenen Kampfes zu gewinnen. Die Aufnahme eines Sportprogrammes in den Aufgabenbereich war einerseits dem starken Antisemitismus geschuldet, andererseits diente er zur Bekräftigung eines positiven jüdischen Selbstbildes, indem das Stigma des „krummen, schwächlichen Juden“ bekämpft werden sollte. Im gleichen Kontext ist auch die neu ins Programm aufgenommene Siedlungspolitik des Reichsbundes zu sehen. Diese wendet sich gegen das Stigma einer ungesunden Berufsstruktur unter der jüdischen Bevölkerung. Der Reichbund wollte beweisen, dass auch ein Jude in der Lage war, Landbau zu betreiben. In der Folge des Pogroms und den damit in Verbindung stehenden Erfolgen intensivierte der Reichsbund seine Gegenwehr gegen antisemitische Propaganda. Dabei wurde er bestärkt durch die Zusammenarbeit mit anderen jüdischen Organisationen, wie dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens oder der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. Auch die Unterstützung durch Vertreter linker, liberaler Parteien, durch örtliche Honoratioren oder durch das Justizsystem trug zu einem erstarkten Selbstbewusstsein bei. Diese gesteigerte Selbstbewusstsein, genährt durch die vermeintlichen Erfolge im Kampf gegen den Antisemitismus, war es auch, dass den Reichsbund ab 1933 nach einer Vormachtstellung unter den deutschen Juden streben lies. In dieser dritten Phase der Geschichte des RjF wurde die über die Jahre streng „gehütete“ Neutralität in innerjüdischen und politischen Belangen beseitigt und der Bund so umgebaut, dass er einer politischen Partei ähnelte. Die Beseitigung der demokratischen Prinzipien innerhalb des RjF durch die einseitige Ausrichtung auf seinen Vorsitzenden Leo Löwenstein rundete dieses Bild ab. Bei seiner Tätigkeit versuchten die Mitglieder des Reichsbundes sich zu entscheiden zwischen einer Identität als Deutscher und Jude. Den Weg der Assimilation zu verlassen und an einer Perspektive in einem anderen Land zu arbeiten, war erst nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten eine denkbare, wenn auch zunächst nicht wünschenswerte Option für den RjF. So rückte schließlich die Identitätsbestimmung als Jude vor die als Deutscher, obwohl der RjF sich in erster Linie als nationaler Verband, der sich aus Soldaten jüdischer „Abstammung“ rekrutierte, und weniger als jüdische Interessenvertretung betrachtet hatte.