Summary: | Als zutiefst in der Tradition europäischer Kunstmusik beheimatete scheint die Musik György Kurtágs auf den ersten Blick mit erprobten musikanalytischen Mitteln relativ gut erfassbar zu sein. Und tatsächlich lassen sich verschiedene Dimensionen von Kurtágs Musik anführen, die innerhalb etablierter Analysekategorien und -paradigmen plausibel beschrieben worden sind: die allgegenwärtigen Verweise und Anspielungen z.B. durch das Konzept von Intertextualität, die Grundlagen tonsetzerischen Handwerks durch historisch fundierte Strukturanalysen, semantische Gehalte durch hermeneutische Ansätze. Bislang wenig Beachtung allerdings fand ein im Kontext eines performance-theoretischen Interesses unmittelbar relevanter Aspekt, der für das musikalische Wirken des Komponisten ohne Frage von hoher Wichtigkeit ist: Interpretation. Ausgehend von Kurtágs Bemerkung, dass sein Komponieren wesentlich durch seine Auffassung von Interpretation motiviert sei, soll daher im vorliegenden Text der Vermutung nachgegangen werden, dass die Kategorie Interpretation in Kurtágs Werken eine wesentliche Rolle spielt und deswegen auch als Ausgangspunkt einer analytischen Erschließung dienen kann. Diese Arbeitshypothese wird in zwei methodischen Schritten verfolgt: Zunächst wird die Kategorie von Interpretation in Hinblick auf prominente Aspekte in Kurtágs Schaffen begrifflich aufgefächert. Im zweiten Schritt wird dann anhand von analytischen Betrachtungen zu Kurtágs Samuel Beckett: What is the Word op. 30a/b (1990/91) ansatzweise demonstriert, wie die so gewonnenen Einsichten für die rezeptive Interpretation einer konkreten Komposition fruchtbar gemacht werden könnten. Durch den Bezug auf drei in der Musikologie der letzten Jahrzehnte einflussreiche Paradigmen ([Inter-]Textualität, Medialität, Performativität) wird dabei eine explizit multiperspektivische Methodik gewählt, mithilfe derer darauf aufmerksam gemacht werden soll, dass eine palimpsestartige Überlagerung methodischer Perspektiven ein tiefendimensionales Verständnis von Musik zu befördern in der Lage ist.
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At first sight, it seems fairly appropriate to apply standard music-analytical tools to the music of György Kurtág, since this music is deeply rooted in the tradition of European art music. Indeed, there are various dimensions of Kurtág’s music which can be plausibly explained with the help of established analytical categories: the omnipresent references and allusions by the concept of intertextuality, the foundations of compositional craftsmanship by historically informed analyses of musical structures, semantic contents by hermeneutical approaches. However, little attention so far has been directed to an aspect that must be considered a crucial facet of Kurtág’s work, being of special interest from the vantage point of musical performance studies: the aspect of interpretation. Taking its cue from Kurtág’s remark that his composing is essentially motivated by his notion of interpretation, the present text assumes that the category of interpretation could be a key to open up new analytical perspectives on Kurtág’s compositions. This hypothesis is pursued in two methodical steps. First, the category of interpretation is conceptually unfolded by dissecting prominent aspects of Kurtág’s work which can be associated with a broad understanding of interpretation. In a second step, an analytical approach towards Kurtág’s Samuel Beckett: What is the Word op. 30a/b (1990/91) is undertaken to demonstrate that such insights enrich the receptive interpretation of Kurtág’s music. By employing three paradigms that have proven to be particularly influential in recent musicology ([inter-]textuality, mediality, performativity), the analysis aims at showing how the superposition of multiple perspectives can deepen the overall understanding of music.
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